Kann man Kindern mit einer Rechenstörung durch einfache Mittel helfen? Klar, sagt Lehrerin und Dyskalkulie-Expertin Alessandra Neumüller.
Im Interview erzählt sie, wie das funktioniert - und warum entsprechende Maßnahmen gleichgestellt werden sollten mit Ergo- und Logopädie.
INTERVIEW: MICHAELA PELZ
Aufgrund alarmierender Pisa-Ergebnisse plant das Kultusministerium mehr Mathestunden. Grundsätzlich eine gute Idee, findet die studierte Mathematik- und Biologielehrerin Alessandra Neumüller aus Markt Schwaben – sofern die Intensivierung des Fachs nicht nur aus mehr Arbeitsblättern besteht. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung spricht die zertifizierte Therapeutin für die ausgeprägte Rechenstörung Dyskalkulie über Finanzierungsmöglichkeiten und darüber, wie man Kindern und Jugendlichen mithilfe von Geld und Eiern die Abneigung gegen das Rechnen nimmt. Außerdem verrät die Mutter von Zwillingen und Förderschullehrerin, warum das Wetter in ihrem Geburtsland Brasilien Schuld ist, dass sie einmal aufgrund mangelnder Matheleistungen nicht versetzt wurde.
„Es bringt nichts, nur
mehr Arbeitsblätter
zu machen.“
SZ: Frau Neumüller, wird in Ihrer „Mathematischen Lernpraxis“ mehr geweint oder gelacht?
Alessandra Neumüller: Bei mir müssen sich die Kinder und Jugendlichen mit ihren Sorgen und Ängsten nicht verstellen. Deshalb wird oft sogar geflucht – besonders am Anfang der Therapie oder vor Schulaufgaben. Sogar das Wort mit „Sch-“ dürfen sie sagen, wenn der Stress zu groß ist. Aber in der Regel wird viel mehr gelacht, ich lache ja selbst sehr gern.
Wie alt sind die Kinder, mit denen Sie arbeiten?
Zwischen sieben und 17. Die meisten kommen am Ende der zweiten, Anfang der dritten Klasse, wenn im Zahlenraum bis 100 die Finger zum Zählen nicht mehr ausreichen. Manche kommen aber erst, wenn der Übertritt in die weiterführende Schule ansteht. Das ist leider schon etwas spät, denn es gilt: je früher, desto erfolgreicher die Förderung.
Welche Auslöser führen dazu, dass die Kinder kommen?
Schlechte Noten, Mathematikangst oder sogar Schulverweigerung. Am häufigsten sind es die Streitigkeiten zwischen Eltern und Kind bei den Hausaufgaben. Wenn die Kinder ewig brauchen, um fertigzuwerden und dann vielleicht noch alles falsch ist. Da fließen oft viele Tränen.
Warum können manche Kinder mit Zahlen nichts anfangen – liegt es am IQ?
Absolut nicht! Manche Kinder haben Schwierigkeiten durch schlechte Erfahrungen und Misserfolge. Viele haben auch den Anschluss in Mathe durch die schwierigen Lernbedingungen während der Corona-Zeit verloren. Andere Kids zählen, statt zu rechnen und haben keinerlei Vorstellungen von Mengen. Sogar ich selbst bin einmal wegen Mathe durchgefallen.
Wirklich? Erzählen Sie doch bitte …
Um uns zu erklären, was negative Zahlen sind, wählte die Mathelehrerin aus dem damaligen Schulbuch das Beispiel von Minustemperaturen. Ich bin aber in Brasilien zur Schule gegangen, da gab es das nicht! Also habe ich überhaupt nicht kapiert, worum es ging. Mit meiner Lebenswirklichkeit hatte das genau gar nichts zu tun. Dabei ist es so wichtig, dass man die ganze Theorie auf das echte Leben überträgt – erst dann können Kinder begreifen, warum etwas gut ist. Am Ende musste ich aufgrund meiner schlechten Mathenote die sechste Klasse wiederholen.
Und dann haben Sie trotzdem Mathematik studiert …
Genau (lacht). Mittlerweile liebe ich das Fach. Und am meisten liebe ich den „Ach-soooooooooo“-Moment, sobald die Kinder die Sache wirklich gecheckt haben.
Wie gehen Sie dafür vor?
Vor der Förderdiagnostik, bei der ich herausfinde, wie das Kind denkt und wo die Schwierigkeiten sind, spreche ich auf Augenhöhe mit meinen kleinen Klienten und erkläre ihnen, wie ich ihnen helfen kann. Schließlich frage ich sie, ob sie das wollen. Erst wenn sie das bejaht haben, legen wir los. Sobald das Kind dann sicher bis zehn rechnen kann, beginnen wir mit kleinen Textaufgaben. Da geht es um Altersunterschiede, die Uhrzeit oder das Einkaufen. Es ist spannend, dass viele ein Gefühl für Geld haben, auch wenn sie sich mit Mathe schwertun. Was die Hälfte von fünf ist, wissen sie nicht – wenn es aber darum geht, fünf Euro gerecht aufzuteilen, klappt es plötzlich. Ansonsten verwende ich ganz viele selbst gebastelte Spiele oder Montessori-Material. Und natürlich Eierkartons.
Warum das?
Sie verdeutlichen die Struktur „5+5“. Man kann die „verliebten Zahlen“ lernen (8+2) und auch sonst viele Aufgaben bis zehn darstellen. Für den Zahlenraum bis 20 nimmt man zwei Kartons. Sogar bis 100 lässt sich rechnen – halt mit zehn Kartons.
Das alles ist aber keine Nachhilfe, oder?
Nein. Nachhilfe konzentriert sich auf konkrete Schwierigkeiten, etwa mit Brüchen oder dem Prozentrechnen. Meine Therapie hilft Kindern mit einer Rechenstörung umzugehen. Bei Ängsten oder Konzentrationsproblemen bringt es gar nichts, sofort mit Rechenaufgaben anzufangen. Das ist wie bei einem Haus: Ist das Fundament löchrig, bringt die Reparatur einer Tür oder eines Fensters nichts. Erst muss ich mich um eine solide Basis kümmern, dann folgt der Rest.
Braucht man für einen Termin eine ärztliche Diagnose?
Grundsätzlich nicht – es ist aber nicht schlecht. Denn dann können Ärzte im Vorfeld andere Beeinträchtigungen ausschließen, zum Beispiel Aufmerksamkeitsprobleme oder eine Angststörung. Das kann nur ein Kinderpsychiater wirklich feststellen. Wenn außerdem die Kosten vom Jugendamt getragen werden sollen, geht es nicht ohne diese Diagnose.
Man muss also nicht immer die Therapie privat zahlen?
Laut Paragraf 35a, Sozialgesetzbuch 8, gibt es einen „Anspruch auf Hilfemaßnahme“, wenn ein Kinder- oder Jugendpsychiater oder -psychotherapeut festgestellt hat, dass das Kind massiv unter den Rechenschwierigkeiten leidet. Es sind ja nicht nur die schlechten Schulnoten, sondern die ganze Lebensqualität ist beeinträchtigt. Ich frage mich wirklich, warum Dyskalkulie immer noch als rein pädagogisches Problem behandelt wird und warum die Therapie nicht längst eine Kassenleistung ist wie Logopädie oder Ergotherapie. Und warum es bei Rechenproblemen immer noch keinen Nachteilsausgleich oder Notenschutz gibt wie bei der Legasthenie.
Wie lange dauert so eine Therapie?
Das variiert. Unter 40 Stunden, also mindestens ein Schuljahr lang, ist es nicht zu schaffen. Auch viele Jugendämter sehen das so. Im Schnitt sind die Kinder 60 Stunden bei mir. Einmal die Woche – öfter ginge auch nicht, ich habe eine lange Warteliste.
Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit den Schulen?
Sehr wichtig. Darum tausche ich mich stets mit der Lehrkraft aus. Erst, um zu erfahren, wie es in der Schule läuft. Dann entwickle ich den Förderplan. Während der Therapie sprechen wir ständig über Fortschritte und neue Herausforderungen.
Wie stehen Sie zu den „Mehr-Mathe-Maßnahmen“?
Ich bin hin- und hergerissen, denn Kinder brauchen auch eine kreative Abwechslung im Schulalltag, nicht nur Hauptfächer. Andererseits brauchen sie definitiv mehr Zeit für Mathematik. Doch auf die Art und Weise kommt es an. Nur mehr Arbeitsblätter zu machen, bringt gar nichts.
„Es ist spannend,
dass viele ein Gefühl
für Geld haben.“
Warum funktioniert bei Ihnen, was sonst nicht klappt?
Es geht immer um Beziehung. Und Erfolgserlebnisse. Am Anfang stelle ich Aufgaben, von denen ich weiß: Das Kind kann das. Genauso am Ende der Stunde. Das Kind soll mit Zuversicht nach Hause gehen – selbst wenn es zwischendrin mal schwierig war. Wenn Eltern mit ihren Kindern lernen, tun sie das oft so lange, bis die Aufgaben zu schwer werden. Dann streiten alle und gehen mit schlechtem Gefühl auseinander. Hier ist das anders. Außerdem habe ich eine Geheimwaffe.
Ach ja, welche?
Therapiekatze Lady! Die versteht gar nichts von Mathematik, ist aber total einfühlsam und kinderlieb. Sie kommt und legt sich auf den Schoß. Gerade bei Kindern mit Schulängsten ist sie sehr beliebt. Wer ADHS hat, wird weniger zappelig. Lady ist mein Lockvogel – sogar wenn die Mathe-Aversion unüberwindlich scheint. Zudem finden viele es toll, dass sie immer etwas besser können als ich, nämlich deutsch (lacht)! Ich glaube, sie mögen meinen brasilianischen Akzent.
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